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Braillemonat: Braille in digitaler Umgebung

  • Braillemonat © BSVÖ

Wird Braille von modernen assistiven Techniken verdrängt und kann das taktile Schriftsystem im Zeitalter der Digitalisierung noch mithalten? Diese Woche haben wir uns im BSVÖ-Fokusthema im Rahmen des Braillemonats schon Gedanken dazu gemacht. Für die Europäische Blindenunion sind diese Fragen ebenso bedeutend wie zukunftsweisend. Wie die EBU die Lage von Braille in einer mehr und mehr digitalisierten Umgebung sieht, welche Chancen und Gefahren wahrgenommen werden und welche Positionen die EBU einnimmt, haben wir für Sie zusammengefasst:  

Braille in der digitalen Umgebung

Wie sich die Brailleschrift in die digitale Umgebung einfügt und hier verwendet werden kann, ist zu einer großen und wichtigen Frage geworden. Die Brailleschrift in Computern wurde mit der Einführung von Braillezeilen eingeführt. Seit 1980 können blinde und viele sehbehinderte Menschen die digitale Welt mit Hilfe der Brailleschrift betreten, indem sie die digitalen Informationen auf einer einzeiligen Braillezeile lesen, einer Hardware, die in der Lage ist, Punkte in geeigneten Braille-Mustern zu setzen und sie schnell zu aktualisieren, wenn sich der Inhalt der Zeile ändert. Diese einzeiligen Braillezeilen sind heute weit verbreitet, auch wenn sie mit vielen neuen Funktionen ausgestattet sind, wie z. B. Bluetooth-Verbindungen mit Computern, Tablets oder Smartphones.

In den letzten Jahren haben die Hersteller von Braille-Hardware große Anstrengungen unternommen, um eine mehrzeilige Braillezeile zu entwickeln, die die vollständige Erfassung einer digitalen Seite mit allen kontextuellen Abhängigkeiten des Textes ermöglicht.

Viele Experten auf der ganzen Welt arbeiten an der Anpassung des digitalen Braille-Dateiformats, damit das geniale Punktesystem sein volles Potenzial in der digitalen Umgebung entfalten kann.

Trotz dieser Fortschritte und Versprechungen gibt es jedoch auch Grund zur Sorge, dass die Bedeutung der Brailleschrift heutzutage vernachlässigt zu werden scheint.

Auch wenn die Brailleschrift nicht so leicht transportiert werden kann und nicht so leicht zugänglich ist wie Audiomaterialien oder Computer mit Bildschirmlesegeräten und eine Transkription und eine gründliche Ausbildung erfordert, bietet sie doch entscheidende Fähigkeiten, um die Lese- und Schreibfähigkeit einer Person zu erlangen. Wie Diana und Doug Brent (2000) es ausdrücken: "Die Brailleschrift ist wie der Druck ein Code, eine schriftliche Darstellung unserer gesprochenen Sprache. Wir würden niemals in Erwägung ziehen, das Lesen und Schreiben in Druckschrift für unsere sehenden Kinder durch ein rein mündliches Medium zu ersetzen. Dieselben Prioritäten und Erwartungen müssen auch für blinde oder stark sehbehinderte Menschen gelten. Wenn mündliche und schriftliche Kommunikation in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und nicht das eine durch das andere ersetzt wird, kann die Technologie zu einem äußerst nützlichen und aufregenden Werkzeug werden, aber die Technologie an sich kann kein Lehrer für Lese- und Schreibfähigkeiten sein.

In den letzten 30 Jahren haben sich nur sehr wenige Arbeiten auf die Lese- und Schreibfähigkeiten in Braille konzentriert, zum Beispiel die Arbeit von Millar aus dem Jahr 1997 (Englebretson et al., 2022), und in der wissenschaftlichen Forschung wurde dem Einfluss der Braille-Schrift auf die Lese- und Schreibfähigkeiten oder das erreichte Bildungsniveau sehbehinderter Menschen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wie Englebretson et al. (2022) feststellten, "gibt es keine einzige Erwähnung der Braille-Schrift in der kürzlich erschienenen zweiten Auflage von The Science of Reading: A Handbook (Snowling et al.)". Die wenigen durchgeführten Studien deuten jedoch stark darauf hin, dass "Personen, die seit ihrer Kindheit primär die Brailleschrift gelesen haben, eine höhere Lebenszufriedenheit, ein höheres Selbstwertgefühl und eine höhere Arbeitszufriedenheit aufwiesen als Personen, die angaben, die Brailleschrift in ihrer Kindheit nicht als primäres Lesemedium verwendet zu haben", was "die Prämisse unterstützt, dass die Brailleschriftkompetenz neben dem akademischen und beruflichen Erfolg ein Schlüssel zur Lebenszufriedenheit und zum Selbstwertgefühl ist" (Silverman und Bell, 2018). Mit anderen Worten: Die vorhandene wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema bestätigt, was der gesunde Menschenverstand zu sein scheint: Eine Person mit guten Lese- und Schreibkenntnissen, die effizient in schriftlicher Form unter Einhaltung der grammatikalischen Regeln kommunizieren und Daten effizient verwalten kann, ist wahrscheinlich besser vermittelbar als eine Person ohne diese Fähigkeiten. Und es ist nicht nur eine höhere Bildung oder ein Beruf, zu dem diese Fähigkeiten verhelfen. Wenn die Lese- und Schreibfähigkeit einer Person konsequent trainiert und gut entwickelt wird, trägt sie zur Verbesserung ihres Wohlbefindens und ihrer Lebensqualität bei.

Die Studie von Natalie N. Stepien-Bernabe, Daisy Lei, Amanda McKerracher und Deborah Orel-Bixler (2019) - The Impact of Presentation Mode and Technology on Reading Comprehension among Blind and Sighted - untersucht eine kleine Stichprobe von 65 Personen. In dieser Studie stellten die Autoren die Hypothese auf, dass es einen Zusammenhang zwischen körperlichem Engagement und Textverständnis bei wissenschaftlichem Material gibt, und untersuchten die Auswirkungen von unterstützenden Technologien auf das Textverständnis. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass das tatsächliche Lesen wissenschaftlicher Texte, sei es durch Sehen oder mit den Fingern, der gleichen Information, die durch auditive Wahrnehmung aufgenommen wird, überlegen ist. Darüber hinaus zeigte die Studie für die Stichprobe blinder Personen eine 10-prozentige Steigerung des Textverständnisses, wenn der Text durch Berührung gelesen wurde, anstatt ihn mit einem Bildschirmlesegerät anzuhören.

Andere Studien legten ebenfalls nahe, dass Braille-Materialien und taktile Hilfsmittel sich als wirksame Mittel erwiesen, "die es blinden Studierenden ermöglichen, sich besser mit dem Lehrmaterial auseinanderzusetzen, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass blinde Studierende an den Wissenschaften beteiligt bleiben" (Supalo et al. in Lillehaugen, 2014).

Im Grunde genommen müssen blinde und sehbehinderte Menschen alle möglichen Wahrnehmungsmöglichkeiten als Hilfsmittel zur Informationsaufnahme nutzen.Die Freizeit kann mit dem Hören von Texten, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften verbracht werden, aber nur durch eigenes Lesen erschließt sich der volle Sinn des geschriebenen Textes und werden gute orthographische Fähigkeiten entwickelt und erhalten. Diejenigen, die kompliziertere Texte lesen wollen, die Dinge selbst aufschreiben

Wer kompliziertere Texte lesen, selbst aufschreiben, anderen vorlesen, Fremdsprachen lernen oder Computerprogramme benutzen will, muss die Brailleschrift beherrschen. Auch für eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit ist sie unerlässlich. Die persönliche Lese- und Schreibfähigkeit muss daher immer ein Hauptziel in der Ausbildung sehbehinderter Menschen sein. Aber nicht nur sie müssen mit der Brailleschrift vertraut sein, wenn das Bildungsumfeld inklusiv sein soll. Laut Tobin und Hill (2015, S. 10), die eine Studie über die künftige Nutzung der Brailleschrift durchgeführt haben, "werden die Schlüsselfaktoren die Ausbildung von Fachlehrern in Regel- und Sonderschulen sowie von Rehabilitationsfachleuten in Erwachsenenbildungszentren sein".

Weiterführend

BSVÖ im Fokus: Braillemonat III - Digitalisierung vs. Braille?: https://www.blindenverband.at/de/aktuelles/2075/BSVOe-im-Fokus-Braillemonat-III-Digitalisierung-vs-Braille

BSVÖ Kompetenzstelle für Barrierefreiheit: https://www.blindenverband.at/de/barrierefreiheit/Kompetenzstelle

EBU Living Braille mit Downloadoption des Positionspapiers: https://www.livingbraille.eu/european-blind-union-issued-a-position-paper-about-braille/

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