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16 Tage gegen Gewalt an Frauen mit Behinderungen. Mehrfachdiskriminierung und Mehrfachgewalt.

  • Tage gegen Gewalt an Frauen © BSVÖ

Menschen mit Behinderungen sind täglich vielfältigen Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Gewalterfahrungen zählen ebenso in den Reigen an (struktureller) Unterdrückung, die Menschen mit Behinderungen oft zu erfahren gezwungen sind. Kaum verwunderlich ist es, dass Frauen mit Behinderungen hier die nachteiligste Stellung einnehmen. Mehrfachdiskriminiert (aufgrund der Behinderung und aufgrund des Genders) führen zu eingeschränkter persönlicher Sicherheit, zu erlebtem Machtmissbrauch, zu körperlicher und psychischer Gefährdungen und Verletzungen. Ein Umstand, der so nicht weiter akzeptiert werden darf.

Mehr als unsicher

Dass Frauen mit Behinderungen auch in Österreich schon im jüngsten Alter einem gewaltvollen Umfeld ausgesetzt sind, ist keine Seltenheit. Die Formen des Missbrauchs, denen Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen begegnen, reichen von psychischer über physischer bis hin zu sexualisierter Gewalt. Sie finden sich in familiären Strukturen, in Ausbildungsstätten und in Partnerschaften, im Verwandten- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz oder in Situationen des täglichen Lebens. Physische Abhängigkeiten und strukturell erschwerte Selbstbestimmtheit feuern das Problemfeld weiter an und drängen Frauen mit Behinderungen in soziale Situationen, aus denen eine selbstständige Befreiung beinahe unmöglich erscheint. Viele erleben ihren Alltag als unsicher – eine Einschränkung, die sich auf alle weiteren Lebensbereiche negativ auswirkt.

Messlatten der Gewalt

Zum Verhältnis von Gewalterfahrungen und Frauen (mit Behinderungen) sind in den letzten Jahren viele repräsentative Studien in Österreich und Deutschland in Auftrag gegeben worden. So auch die von 2017-2019 durchgeführte Studie „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen“, die unter der Leitung von Dr. Hemma Mayrhofer und in Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgemeinschaft (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte, Queraum – Kultur- und Sozialforschung und Hazissa – Fachstelle für Prävention) durchgeführt wurde. Jene Studie kommt, ebenso wie vergleichbare andere Studien, zu dem Schluss, dass Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen signifikant höherem Gewaltrisiko ausgesetzt sind und dass Frauen mit Behinderungen stärker von Gewalt betroffen sind, als Männer. Erhöhte Vulnerabilitätsfaktoren sowie individuelle und institutionelle Risikofaktoren führen dazu, dass Frauen mit Behinderungen nach wie vor von allen Formen der Gewalt betroffen sind.

In der oben genannten Studie wird zum Beispiel festgehalten, dass Frauen mit (und ohne) Behinderungen bzw. psychischer Erkrankung insgesamt in signifikant höherer Betroffenheit von sexueller Gewalt berichten als Männer. Vor allem im Bereich schwerer Formen sexueller Gewalt („hands on“) wird eine mehrfach höhere Betroffenheit von Frauen mit Behinderungen im Vergleich zu Männern und auch im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen sichtbar.

Auch die Autorinnen der 2012 durchgeführten Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ hielten einen direkten Zusammenhang zwischen Behinderungen und Gewalt fest: im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen sind sie von einem höheren Risiko betroffen, dass Gewalterfahrungen zu späteren gesundheitlichen und mentalen Beeinträchtigungen führen. Aus der Studie ging hervor, dass 68 bis 90 Prozent der erwachsenen Frauen mit Behinderungen von psychischer Gewalt und 58 bis 75 Prozent von körperlicher Gewalt betroffen wären. Gehörlose, blinde sowie psychisch erkrankte Frauen fanden sich unter den am häufigsten betroffenen Gruppen.

Der nationale empirische Bericht: „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“ aus 2014 hielt jene Orte fest, an denen Frauen mit Behinderungen vermehrt mit Gewalt konfrontiert wurden.

  • Eigener Haushalt
  • Ausbildungszentren
  • Arbeitsplatz
  • Institutionen der Behindertenhilfe
  • Gesundheitssystem
  • Alltag und Freizeit

Als Ausübende werden Partner*innen, Familienmitglieder, Ausbildende, Vorgesetzte, Pflegende, Ärzt*innen, Nachbar*innen, Bekannte und fremde Personen genannt.

Eine der jüngsten Umfragen führte das Frauenservice Wien 2021 unter dem Titel der Online-Befragung "Weniger Barrieren - mehr Wien" durch. Auch wurde dem Forschungsinstitut L&R Auftrag erteilt, eine qualitative Studie zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen und oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Wien durchzuführen. Unter folgendem Link können Sie die Studie einsehen: https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/behinderung/studie-behinderung.html

Zum Schutz verpflichtet

Der Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichte die Vertragsstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen. Außerdem müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, wirksam von unabhängigen Behörden überwacht werden.

Dass Menschen – und hier vor allem Frauen mit Behinderungen weiterhin einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt und in ihrer psychischen und physischen Selbstbestimmtheit übergriffigen, einschränkenden, missbrauchenden und verletzenden Handlungen konfrontiert sind, ist ein untragbarer Zustand, der von vielen Institutionen und Frauen- sowie Behindertenrechtsorganisationen aufs Schärfste verurteilt wird. Auch der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich sieht großen Handlungsbedarf im Bereich des Opferschutzes und der Gewaltprävention gegeben.

Über den Schutz hinaus

Die Forderung nach gewaltlosen Lebensumständen für Frauen mit Behinderungen und nach effektivem Schutz vor Gewalterfahrungen, der schon im Kindesalter lückenlos greift, muss im Sinne einer gleichberechtigen und chancengleichen Gesellschaft aber erweitert werden. Es greift zu kurz, in der Diskussion um Opferschutz und Gewaltprävention außer Acht zu lassen, dass Frauen mit Behinderungen struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, die eine selbstbestimmte Teilhabe an gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und arbeitsrelevanten Prozessen nicht nur erschweren, sondern oft unmöglich machen.

Der Österreichische Behindertenrat machte in den letzten Jahren mehrfach darauf aufmerksam, dass gezieltes Empowerment, starke Vernetzungen und solide Interessensvertretungen notwendig sind, um den höchst alarmierenden status quo aufzubrechen und zu verbessern. Unter den Schlagwörtern „Sichtbar. Sicher. Selbstbestimmt“ listet der Österreichische Behindertenrat zielführende Strategien der Verbesserung.

Das Forderpapier hierzu kann im Anschluss an den Artikel heruntergeladen werden.

Und was jetzt?

Die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen setzen eine Erinnerung daran, dass Frauen im Allgemeinen und Frauen mit Behinderungen im Speziellen vom erhöhtem Gewaltrisiko betroffen sind. Hier zeigt sich, dass es nicht reicht, Gewalt durch Opferschutz entgegenzuwirken. Erst wenn Gewaltrisiken der Nährboden durch gezielte Strategien der Kräftigung und der Gewaltprävention abgegraben wird, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit für Mehrfachdiskriminierung, auf gesellschaftliche Ungerechtigkeit und auf fundamentale Benachteiligung.

Weiterlesen

Teil 3 der Reihe „BSVÖ: 16 Tage gegen Gewalt an Frauen. Der Preis des Widerstandes.“ lesen Sie am 2.12.2022

Teil 1 „BSVÖ: 16 Tage gegen Gewalt an Frauen. Normalzustand des Untragbaren.“ finden Sie unter folgendem Link: https://www.blindenverband.at/de/aktuelles/1662/BSVOe-16-Tage-gegen-Gewalt-an-Frauen-Normalzustand-des-Untragbaren

 

Weiterführende Links

Bundeskanzleramt: „Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen Gewalterfahrungen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen“: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/gewalt-gegen-frauen-mit-behinderungen.html

Behindertenrat: „Forderungen der Frauen mit Behinderungen.“:  https://www.behindertenrat.at/forderungen-der-frauen-mit-behinderungen/

Studie: Zusammenfassung. „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“:

https://www.gewaltinfo.at/themen/2015_10/gewalt-an-frauen-mit-behinderung.php

Online-Befragung "Weniger Barrieren - mehr Wien" der Stadt Wien: https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/behinderung/

Download der Studie: „Erfahrungen und Prävention von
Gewalt an Menschen mit Behinderungen“:  https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=718

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