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BSVÖ Fokus November: Katastrophenfall und Barrierefreiheit. Menschen mit Behinderungen klar im Nachteil.

  • Bsvö im Fokus © BSVÖ

 

Katastrophenfälle sind unberechenbar. Wann und in welcher Art sie eintreten beeinflusst, wie auf sie reagiert werden muss, um Schäden und Verluste zu minimieren und um Menschen so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen. Damit Versorgungsketten und Evakuationen möglichst gut funktionieren, braucht es klare Pläne für den Notfall – und da beginnt schon eine der großen Herausforderungen: sich auf eine Katastrophe einzustellen, erfordert die Recherche einer umfangreichen Datenlage und von Erfahrungen und nicht zuletzt die Evaluation bisheriger Strategien. Die Katastrophe kann im Vorfeld geprobt werden wobei alle Eventualitäten mit einbezogen werden müssen. Vieles davon passiert als Planung nur am Papier und kommt im besten Fall nie zur Anwendung. Damit aber auch Bürger:innen im Ernstfall wissen, was zu tun ist, müssen sie in die Strategien mit einbezogen werden. Wie aber wird man überhaupt informiert, dass es ernst wird? In den meisten Fällen beginnt es mit einem Alarm…

Zivilschutzalarm – jährliche Probe, jährliche Probleme?

Am 4. Oktober 2025 war es wieder so weit:  beim bundesweite Zivilschutz-Probealarm heulten rund 8.300 Feuerwehrsirenen österreichweit. Ausgelöst konnten sie je nach Lage zentral vom Innenministerium oder auch von den Landes- oder Bezirkswarnzentralen werden.

Parallel zu den Sirenen wurde auch eine Testmeldungen über das Warnsystem AT-Alert an Mobiltelefone von Bürger:innen verschickt. Der Probealarm dient nicht nur der Testung des Systems, sondern soll die Bevölkerung mit dem Warnsystem vertraut machen.

Der Notfall muss geprobt werden, damit im Ernstfall die Basis für das Warnsystem der Bevölkerung bekannt ist. So die Theorie. Dass die Praxis viele unbekannte Herausforderungen mit sich bringen kann, ist naheliegend. Katastrophenfälle halten sich nicht an Regeln und erprobte Routinen. Wer aber nicht flexibel auf neue, womöglich höchst bedrohliche Situationen reagieren kann, läuft Gefahr, zu Schaden zu kommen. Gerade für Menschen, die in ihrer selbstbestimmten Orientierung und Mobilität aufgrund einer Behinderung auf Routinen, Hilfsmittel und Barrierefreiheit angewiesen sind, wird es hier kritisch. Aber das Ausmaß der Herausforderungen ist ein weitaus größeres.

Menschen mit Behinderungen im Nachteil

Wer sich beim Zivilschutz-Probealarm Gedanken darüber gemacht hat, wie dienlich er auch für Menschen mit Behinderungen ist, ist einem großen Problem auf der Spur.

Die UNDRR fasst zusammen:

  • Schätzungsweise 1,3 Milliarden Menschen – oder jeder sechste Mensch weltweit – leben mit einer schweren Behinderung (WHO).
  • 71 % der Menschen mit Behinderungen haben keinen individuellen Notfallplan für Katastrophenfälle (UNDRR, 2013).
  • 13 % der Menschen mit Behinderungen  haben niemanden, der ihnen bei der Evakuierung helfen kann (UNDRR, 2013).
  • Etwa 85 % der Menschen mit Behinderungen haben sich noch nie an Prozessen zum Katastrophenmanagement und zur Risikominderung in ihren Gemeinden beteiligt (UNDRR, 2013).
  • Nur 20 % der Menschen mit Behinderungen geben an, dass sie im Falle einer plötzlichen Katastrophe in der Lage wären, sofort zu evakuieren (UNDRR, 2013).
  • Menschen mit Behinderungen hatten bei dem großen Erdbeben in Ostjapan im Jahr 2011 eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate (Disability Information Resource, 2012).

(Quelle: https://www.undrr.org/partners-and-stakeholders/disability-inclusion-disaster-risk-reduction)

Weltweit sind Menschen mit Behinderungen also klar im Nachteil, sobald es zum Katastrophenfall kommt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:

Warnsysteme sind nicht barrierefrei
Nur barrierefreie Warnsysteme erreichen auch wirklich alle Menschen. Apps und Alarme, Informationen und Anweisungen die für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich sind, weil sie nur visuell ausgegeben werden oder in ihrer Struktur Barrieren aufweisen, können im Notfall Leben kosten. Das gilt natürlich auch für gehörlose Menschen, die durch rein akustische Alarmsysteme und fehlende Untertitelung bei Nachrichten nicht alarmiert werden oder etwa Menschen mit eingeschränkter Mobilität.

Nicht kompatible oder deaktivierbare Mobile Alerts
Nicht alle Geräte unterstützen Warnsysteme, die Folge sind verspätete oder gar fehlende Warnungen.

Unzugängliche und nicht barrierefrei gekennzeichnete Evakuierungszentren, Versorgungsorte oder Unterkünfte
Blinde und sehbehinderte Menschen müssen im Notfall Wege in die Sicherheit finden können. Da Routinen und erprobte Wege in Katastrophenfällen oft nicht mehr gelten, ist ein Notfallplan notwendig, der individuelle Unterstützung bereithält. Auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind hiervon betroffen – es muss sichergestellt sein, dass sie ihre Wohnung im Notfall verlassen können und Transportoptionen vorhanden sind. Notfall-Unterkünfte ohne barrierefreien Zugang, ohne Menschen mit Erfahrung in Assistenz, ohne Lagerplätze für Hilfsgeräte und taktilen Navigationshilfen stellen für Menschen mit Behinderungen zusätzlich zur Notsituation neue Herausforderungen dar.

Versorgungsausfälle (Medikamente, Hilfsmittel)
Ausfälle von Versorgung durch essentielle Güter wie etwa Medikamente oder Hilfsmittel, oder der Verlust von Taststöcken, Hörgeräte oder Prothesen kann schnell zu prekären Situationen führen. Menschen mit Behinderungen, die auf gewisse Medikamente angewiesen sind oder notwendige Hilfsmittel verloren haben, sind in Notsituationen ohne Versorgungsketten schnell besonderen Risiken ausgesetzt. Auch das Fehlen von Möglichkeit zur Kühlung von Medikamenten kann die Situation verschlechtern.

Organisatorische Ausgrenzung im Vorfeld
Menschen mit Behinderungen werden bei Entscheidungsprozessen oft nicht eingebunden wodurch Bedürfnisse und Forderungen in der Planungsphase nicht berücksichtigt werden.

Teilhabe bevor es ernst wird

Damit Evakuierungen und Notfallsketten für alle funktionieren, müssen die Forderungen und Bedürfnisse aller einbezogen werden. Interessenvertreterorganisationen und engagierte Zivilist:innen haben die Expertise, die von offiziellen Stellen so dringend benötigt wird, um Katastrophenplanung für alle auszuführen. Dennoch erleben wir den Ausschluss von Expert:innen und Betroffenen in Planungsphasen. Aber besonders im Notfall muss das Motto „Nichts über uns ohne uns“ gelten, um wirklich alle ins Rettungsboot zu holen.

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