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Wenn das Sehzentrum spricht: Wie blinde Menschen Sprache verarbeiten

  • sprache © bsvö

Was passiert im Gehirn, wenn ein Mensch von Geburt blind ist? Eine Studie des „Brain Language Laboratory“ der Freien Universität Berlin liefert spannende Antworten. Demnach übernimmt bei blinden Menschen der visuelle Kortex – also jener Bereich des Gehirns, der bei sehenden Personen visuelle Reize verarbeitet – teilweise Aufgaben im Bereich der Sprachverarbeitung. Diese Erkenntnisse zeigen auf beeindruckende Weise, wie anpassungsfähig unser Gehirn ist.

Neuroplastizität: Das Gehirn formt sich um

Diese Fähigkeit zur strukturellen und funktionellen Veränderung wird in der Fachsprache Neuroplastizität genannt. Darunter versteht man die Eigenschaft des Gehirns, sich durch Erfahrung, Lernen oder Schädigung neu zu organisieren. Die Studie von Dr. Rosario Tomasello und seinem Team (2019) konnte zeigen, dass blinde Menschen beim Sprachverstehen Hirnareale nutzen, die bei sehenden Personen für visuelle Reize reserviert sind. Der visuelle Kortex wird also zusätzlich zu den klassischen Spracharealen, der Broca und dem Wernicke-Areal, in die Sprachverarbeitung eingebunden.

Hebbian Learning: Neuronen, die gemeinsam feuern, vernetzen sich

Ein besonders spannender Aspekt der Studie ist die Erklärung dieses Phänomens durch das sogenannte Hebbian Learning. Dieses Prinzip, benannt nach dem kanadischen Psychologen Donald Hebb, basiert auf dem Leitsatz: „Neurons that fire together, wire together“. Das bedeutet, dass sich synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen verstärken, wenn diese wiederholt gleichzeitig aktiviert werden – etwa beim Sprachverstehen. So entstehen neue funktionale Netzwerke, auch zwischen Regionen, die ursprünglich auf andere Aufgaben spezialisiert waren, etwa um visuelle Reize zu verarbeiten. Zusätzlich wird dieser Umbauprozess durch die sogenannte Doursat-Bienenstock-Expansion gestützt – ein Modell, das beschreibt, wie stark genutzte neuronale Pfade sich ausdehnen, wenn hemmende Signale ausbleiben.

Wie wurde dies untersucht?

Untersucht wurde dies anhand eines biologisch realistischen neuronalen Netzwerkmodells, das zeigte, dass in der Simulation von Blindheit der visuelle Kortex deutlich stärker in die Sprachverarbeitung integriert war. Dabei handelt es sich um eine Computersimulation, die dem menschlichen Gehirn nachempfunden ist und es ermöglicht, komplexe Prozesse wie das Verstehen von Sprache unter verschiedenen Bedingungen nachzubilden.

Frühere Studien stützen diese Erkenntnisse

Dies zeigen auch frühere Forschungsergebnisse, wie beispielsweise eine Studie von Wissenschaftlern des MIT (Massachusetts Institute of Technology): Bereits im Jahr 2011 konnten Rebecca Saxe und ihr Team zeigen, dass blinde Menschen beim Sprachverstehen und bei anderen kognitiven Leistungen Hirnareale nutzen, die bei Sehenden der Verarbeitung visueller Informationen dienen. Die Studie analysierte mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) die Aktivierungsmuster im Gehirn während semantischer Sprachaufgaben. Dabei wurden blinde und sehende Personen miteinander verglichen. Die Forscher:innen beobachteten, dass bestimmte Bereiche im Okzipitallappen – also im Hinterhauptslappen, wo sich der visuelle Kortex befindet – bei den blinden Proband:innen systematisch bei sprachlichen Aufgaben aktiviert wurden. Dies deutet darauf hin, dass das Gehirn visuelle Kapazitäten umnutzt und neu vernetzt, um andere kognitive Aufgaben zu übernehmen.

Start einer neuen Serie: Denken, Sprache und Gehirn

Dieser Artikel bildet den Auftakt zu einer neuen Serie, in der wir erforschen, wie Sprache im Gehirn entsteht – besonders bei blinden und sehbeeinträchtigten Menschen. Wie lernen blinde Kinder sprechen? Welche Rolle spielen Hören, Tasten und Fühlen? Dabei öffnen wir zugleich den Blick auf die faszinierende Frage, wie sich das Gehirn insgesamt organisiert, wenn visuelle Reize fehlen. Denn Sprache ist nur ein – wenn auch zentraler – Aspekt der neuronalen Anpassungsfähigkeit. Die Serie widmet sich daher auch der Frage, wie das Gehirn blinder Menschen denkt, lernt und sich umstrukturiert.

Wir werfen einen genaueren Blick auf die besonderen Ressourcen, die blinden Menschen zur Verfügung stehen – und fragen, was wir daraus für inklusive Bildung, Kommunikation und unser Verständnis von Denken und Gehirn lernen können.

Weiterführende Links

Studien

Tomasello, R., Wennekers, T., Garagnani, M., Pulvermüller, F., 2019. Visual cortex recruitment during language processing in blind individuals is explained by Hebbian learning. Sci. Rep. 9, 3579.https://doi.org/10.1038/s41598-019-39864-1

Marina Bedny, Alvaro Pascual-Leone, David Dodell-Feder, Evelina Fedorenko, and Rebecca Saxe: Language processing in the occipital cortex of congenitally blind adults. https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1014818108

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