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BSVÖ im Fokus: Braillemonat IV – Bedrohtes Braille?

  • Braillemonat © BSVÖ

In den bisherigen Beiträgen zum Fokusthema unseres Braillemonats haben wir uns über die Wichtigkeit und den Nutzen von Braille unterhalten und festgestellt, dass Braille auch nach 200 Jahren noch immer relevant ist. Trotzdem gibt es mehrere Einflüsse und Neuerungen, die das Schriftsystem zurückdrängen, ersetzen oder zurückreihen. Welche das sind und ob wir uns über die Zukunft von Braille ernsthaft Sorgen machen müssen, erfahren Sie hier.

Von Kinderfingern an

Wenn Agnes einen Text in Braille liest, taucht die Dreizehnjährige in ihre eigene Welt. Eine Welt aus Zeichen, Wörtern und Klängen, die durch ihre Finger in den Kopf dringen. „Es geht eigentlich ganz rasch, wenn ich so lese“, sagte das Mädchen, das Braille in der Schule lernte und das viele Schulunterlagen und Materialen in dem Punktschriftsystem am Schreibtisch liegen hat. Weil Agnes die einzige mit einer sehr starken Sehbehinderung in ihrer Familie ist, war Braille für ihre Eltern, Großeltern und die jüngere Schwester am Anfang Neuland. „Sie haben gar nichts mit den Druckbögen und den erhabenen Punkten anfangen können“ erinnert sich Agnes. „Papa hat mich dann immer gefragt, was hier oder dort steht und Mama hat mir auch nicht weiterhelfen können, wenn ich ein bestimmtes Heft oder Buch gesucht habe, das nur in Braille gedruckt war.“ Die erste, die Braille lernen wollte, was Agnes‘ kleine Schwester gewesen. „Für sie ist Braille eine Art Geheimcode mit dem sie sich mit mir verständigen kann. Eines Tages ist sie zu mir gekommen und hat gesagt: ‚Agnes, ist das eigentlich schwer zu lernen?‘ Ich war mir damals nicht sicher, ob sie es schaffen würde, aber sie war eifrig und sehr interessiert. Und nach ein paar Wochen hat es schon richtig gut geklappt!“

Die Familie kaufte damals eine Punktschrifttafel und einen Griffel, und bestellte Tafeln, auf denen die Buchstaben und Sonderzeichen sowohl in Schwarzschrift gedruckt, als auch taktil abgebildet waren. Dazu kam ein Beschriftungsgerät, das Agnes dazu nutzte, Gegenstände in der Wohnung miittels Prägeband zu kennzeichnen. Agnes erinnert sich lächelnd: „Ich habe den Kühlschrank und die Eingangstür, aber auch kleinere Dinge wie den Teddybären meiner Schwester oder den Geigenkasten meines Papas beklebt. Manchmal hat sich meine Familie schon gewundert. Zum Beispiel, als auf einem die Computermaus oder die Lieblingsespressotasse meiner Mama mit Prägeband beschriftet waren!“

Aber auch außerhalb der Wohnung wurde die Familie mit Braille konzentriert. Seit sie darauf aufmerksam gemacht worden waren, wie wichtig die Punktschrift für ihre Tochter ist, fanden Sie Braille an vielen Orten: Auf barrierefreien WCs, in Museen, auf Mülltonnen.

Dass es dennoch an vielen Stellen fehlt, macht Agnes manchmal sehr wütend.

„Wenn ich etwas einkaufen möchte, ein bestimmtes Joghurt oder eine Schokolade, fehlt mir die Information, was ich da eigentlich kaufe. Ich habe schon einmal unabsichtlich Kaffeejoghurt gekauft, obwohl ich eigentlich Himbeere haben wollte.“

Neues und Altes

Genau hier kommen aber andere Technologien zum Einsatz. Agnes verfügt nicht nur über ein eigenes Smartphone, sondern auch über einige neue Apps, die beim Erkennen von Produkten hilfreich sind. Dennoch ist dies nicht für alle die passende Lösung. Menschen, die nicht smart unterwegs sein wollen oder können, sind hier oft auf Assistenz angewiesen und erfahren Exklusion durch fehlende Barrierefreiheit und vorenthaltene Information.

Für Johann etwa sind Iphone & Co keine Alltagshelfer. Der Senior ist über 80, späterblindet und lebt mit seiner Frau in einem Senior:innenheim. Braille erlernte er, als es aufgrund seines schwindenden Sehvermögens notwendig wurde und leicht gefallen ist es ihm nicht. „Ich habe mich aber täglich hingesetzt und geübt“, erzählt Johann. Braillekurse in seiner Landesorganisation haben ihm sehr weitergeholfen. Und auch, dass er sich mit anderen hatte austauschen können, half durch die Zeit des Lernen und des Gewöhnens an die Punkte. Weil Johann viel und gerne Gitarre spielt, sind die Fingerkuppen der linken Hand von einer festen Hornhaut umgeben, das macht das Lesen nicht immer ganz einfach. Damals hatte jemand zu ihm gesagt, er müsse sich entscheiden zwischen der Musik und der Brailleschrift. „Das ist aber nicht in Frage gekommen“, poltert Johann bei der Erinnerung. „Und wirklich, es ist beides möglich. Auch wenn ich manchmal langsam vorankomme.“

Aber hängt die Relevanz von Braille nur noch an älteren Generationen und an denjenigen, die auf smarte und digitale Alternativen verzichten? Sprachausgabe, Hörbücher, Apps, die Produkte, Wege, Schrift erkennen und barrierefrei zugänglich machen, Einscannoptionen via QR-Codes, eine Verlagerung von Informationen in digitale Sphären; mit einem Wort: Hilfstechnologien, die Informationen vieler Art auf anderen Wegen als dem visuellen zugänglich machen, sie alle machen Braille doch zu einem überholten System. Oder doch nicht? Kann sich das Schriftsystem weiter erhalten, auch wenn aus vielen Bereichen neue Technologien nachdrängen, die scheinbar bequemer, schneller und einfacher zu bedienen sind?

Gegen jede Konkurrenz?

Ja!, sagen Expert:innen. Braille wird weiterbestehen und dafür gibt es auch gute Gründe.

Gerade für das Erlenen der Sprache in Wort und Schrift etwa ist Braille enorm wichtig. Die Alphabetisierung durch die Schrift ist Grundlegend beim Bildungserwerb und kann nicht so einfach ersetzt werden. So bleibt die Schrift auch eine Alternative zur auditiven Informationsausgabe, die am Digitalen Sektor vorherrscht. Wer Braille lesen und schreiben kann, ist klar im Vorteil.

Dass aber nicht alle Menschen weltweit Zugang zu Braille haben, ist ein ernsthaftes Problem. Das beginnt bei der Fehlenden Möglichkeit des Erlernens und geht weiter über den Mangel an Braillebeschriftungen, an Literatur und Informationen in Braille. Blinde und stark sehbehinderte Menschen, die dieserart keinen Zugang zur Schrift haben, sind vom Bildungswesen exkludiert und erfahren keine ausreichende Alphabetisierung, um sich später in Berufen verdingen zu können, in denen Schreib- und Lesekenntnisse notwendig sind. Aufgrund des Mangels an Mitteln das Recht auf Bildung versagt zu bekommen, ist in vielen Ländern nach wie vor traurige Realität. Vor allem in ruralen Gebieten, in denen ein genereller Mangel an Bildungseinrichtungen herrscht oder in Ländern, die sich aufgrund ständiger Konflikte oder Krieger in gesellschaftlicher Unsicherheit befinden, ist für blinden und sehbehinderten Menschen das Erlenen von Braille oft nicht möglich.

Kein Ende von Lied

Braille kann auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückblicken und wird auch so schnell nicht aus dem Lebensalltag blinder und sehbehinderter Menschen verschwinden. Umfangreich anwendbar und greifbar ist die Punktschrift Informationsträgerin, die von blinden und sehbehinderten Menschen sowohl aktiv, als auch passiv genutzt wird. Schreibend und beschreibend erlaubt Braille ebenso Selbstbestimmtheit wie im Gelesenwerden. Daran können auch moderne Technologien nichts ändern. Im Idealfall aber gehen sie Hand in Hand, die alte und die neuen Systeme zur Informationsvermittlung. Das meint auch Agnes, wenn sie wieder neue Gegenstände in der Wohnung gefunden hat, die sie mit Prägeband beschriften kann. Zuletzt war es das Aquarium. „Ich habe die Namen der fünf Goldfische geprägt und entlang der Kante des Aquariums geklebt. Mama bat mich dann aber, dass ich die Namen der fast 20 Guppys nicht auch auf das Glas klebe. Sonst sieht man ja gar nicht mehr hinein“, lachte das Mädchen.

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