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BSVÖ - Drei Frauen, drei Fragen: Wie man Chancen ungleich schmiedet.

  • Weltfrauentag 2023 © bsvö

Der 8. März ist seit 1921 internationaler Frauentag. Jedes Jahr rückt er Themen wie Gleichstellung, Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe an allen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen in den Fokus. Für Frauen mit Behinderungen scheint die Bedeutung des Weltfrauentages umso dringlicher auf: Mehrfachdiskriminierung, Mehrfachbelastung und eine Gesellschaft, die das Potential von Frauen mit Behinderungen in vielen Bereichen nicht anzuerkennen bereit ist, führen zu täglichen Hürden am Weg zum chancengleichen Leben.

Wir haben den Weltfrauentag zum Anlass genommen um mit drei blinden und sehbehinderten Frauen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dabei standen drei große Fragen im Mittelpunkt...

In welcher Form haben sie Mehrfachdiskriminierung erfahren – als Mensch aber auch als Frau mit Behinderung und was würde es in Österreich dringend benötigen, um ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können? Und schließlich: Welche Erfahrungen und Erkenntnisse möchten sie teilen und sollen gehört werden?

 Ob am Arbeitsplatz oder auch im privaten Raum – als Frau mit Behinderung sind Mehrfachdiskriminierungen nach wie vor an der Tagesordnung. Dass dies alle Altersgruppen treffen kann, berichten Adriana Galani, Dr. Elisabeth Martin und Janine Zehe. Alle drei haben im Laufe ihres Lebens immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass ein gleichberechtigter Austausch auf Augenhöhe ebenso wenig vorausgesetzt werden kann, wie Chancengleichheit am Arbeitsplatz. Und dass Frauen nicht ernst genommen werden, wenn sie ihre Bedürfnisse kommunizieren, seien sie auch noch so grundlegend.

Kann sie das denn überhaupt?

Wer als blinde oder sehbehinderte Frau die Möglichkeit hat, eine solide Ausbildung zu genießen, kann sich schon zu den Glücklichen zählen. Nach wie vor ist das Bildungssystem lückenhaft und lässt viel Luft nach oben – ein Umstand, den Selbsthilfeorganisationen wie der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich schon lange kritisieren. Ressourcenknappheit, fehlende Barrierefreiheit in der Aus- und Weiterbildung und Mangel an pädagogischen Fachkräften, die bedarfsgerechten Unterricht ermöglichen, machen es für Menschen mit Behinderungen schwer, das eigene Potential auszuschöpfen und den idealen Job zu verfolgen.

Aber selbst, wenn alle Hürden am Bildungsweg so weit genommen wurden, bedeutet dies noch lange nicht, dass sich am Arbeitsmarkt auch der Rest fügen wird. Ob sie Frauen mit Behinderungen einstellen, überlegen sich viele Dienstgeber lieber zweimal. Zu groß sind die Berührungsängste und die Vorurteile, zu klein ist das Wissen zur tatsächlichen rechtlichen Lage zur Anstellung von Menschen mit Behinderungen. In vielen Unternehmen geht man davon aus, dass Angestellte mit Behinderungen unkündbar und teuer sind, nicht die gleiche Arbeitsleistung erbringen würden und dass für ihre Arbeitsplätze kostspielige Adaptionen zu machen wären, für die alleine das Unternehmen aufkommen müsse. Bewirbt sich dann auch noch eine Frau mit Behinderung, hängen sich die üblichen Klischeeprobleme mit an: Was, wenn sie schwanger wird und für die nächsten Monate und Jahre mitfinanziert werden muss? Kann sie als Frau überhaupt mit den Herausforderungen und dem Druck umgehen und wird sie sich ins Team fügen? „Nicht jede Frau wird automatisch schwanger“, ärgert sich Janine Zehe. Die in Hamburg geborene diplomierte Sozialpädagogin kennt die Vorurteile und hat so ziemlich jedes Gegenargument schon hören müssen. „Das sind Vorurteile, mit denen alle Frauen zu tun haben, egal ob blind oder sehend.“ Komme im Bewerbungsschreiben dann aber noch der Zusatz dazu, Frau mit Behinderung zu sein, sinken die Chancen, auch nur Rückgerufen zu werden auf den Nullpunkt zu. Über zweitausend Bewerbungen hatte die kommunikative Hamburgerin in Norddeutschland ausgeschickt – angestellt wurde sie von niemanden.

„Klar gesagt wurde es nie, aber ich habe es gespürt…“

Dass es auf der Dienstgeberseite her an Möglichkeiten aber auch an Wissen fehlt, weiß auch Adriana Galani: „Viele Einrichtungen sind nicht auf blinde Menschen spezialisiert.“ Oft wurde sie mit Absagen konfrontiert, weil es an Barrierefreiheit mangle. Sogar im Bereich von Sozialeinrichtungen musste sie die schmerzhafte Erfahrung machen, dass Vorurteile selbst hier ein ohnehin schwieriges Fußfassen erschweren. Mit offenen Karten spielte man dennoch nicht. „Auf meine Blindheit wurde nicht eingegangen“, erinnert sich Frau Galani, die noch immer darunter leidet, ihren Arbeitsplatz verloren zu haben. Als Beraterin war die Kinderpsychologin gerne tätig gewesen. Aber ein Arbeitsklima, das ihr immer wieder deutlich gemacht hatte, nicht selbstverständlicher Teil des Teams zu sein, hatte schon früh begonnen, an ihren Nerven zu zehren. „Klar gesagt wurde es nie, aber ich habe es gespürt, dass hinter meinem Rücken geredet wurde“, so Adriana Galani. Kann sie wirklich mithalten und wie könnten Probleme bewältigt werden? Anstatt auf Lösungen orientiert zu sein, erlebte Frau Galani den Weg der Kündigung – einen Weg, den auch Dr. Elisabeth Martin erfahren musste. Als Mitarbeiterin der Statistik Austria führte die am grünen Start erblindete Biologin Interviews vor Ort durch. „Ich lernte mit meiner Assistenz die Wege zu den Wohnungen der Leute auswendig und ließ mir zeigen, wo ich anläuten musste. Beim nächsten Mal konnte ich schon selbstständig hinfinden, das Interview führen und die Daten an meinen Arbeitsplatz übermitteln.“

Dass der Werkvertrag irgendwann nicht mehr verlängert wurde und Dr. Martin, die mit Freude ausgeführte Arbeit nicht fortsetzen durfte, rüttelte schwer an der finanziellen Sicherheit. Von einem Tag auf den anderen galt es, eine neue Möglichkeit zu suchen, weiterhin selbstbestimmter und selbstverdienender Teil der Gesellschaft zu bleiben. „Man hatte sich in den monatlichen Schulungen daran gestört, dass meine OrCam Brille in den Pausen die für mich notwendigen Texte vorlesen ließ“, erzählt Dr. Martin mit gleichermaßen großem Bedauern wie Unverständnis für die Situation, die zur Kündigung geführt haben soll. „Es hatte tatsächlich Beschwerden der Kolleg:innen gegeben.“

Für Janine Zehe war die Anstellung in der Hörbücherei des BSVÖ ein Glückfall, für den sie sogar bereit war, Deutschland zu verlassen. Dort war es aussichtslos gewesen, überhaupt an Arbeit zu kommen. „Als Studierte war es noch einmal schwieriger“, erinnert Frau Zehe die Situation. „Ich habe mich sogar in einem Callcenter beworben, aber sie trauten mir nicht zu, die Namen richtig lesen zu können. Hilfsmittel werden in Deutschland nur für unbefristete Stellen finanziert – die Callcenterarbeit war natürlich befristet. Und Arbeitsassistenz kann man nur bei Vollzeitbeschäftigung beantragen.“

Nichts in der Hand zu haben, ist eines der großen Probleme, die Diskriminierungen am Arbeitsplatz begleiten. Ob es das als harmloses Mitarbeiter:innengespräch angekündigte Treffen ist, bei dem die Papiere zum Unterzeichnen der einvernehmlichen Kündigung schon am Tisch liegen oder ob es die Kommentare von Mitarbeiter:innen sind, die mehr oder weniger offen an den Fähigkeiten der blinden Kollegin zweifeln oder Hilfestellungen unter Vorwänden verweigern. Auch zum Ignorieren der klar kommunizierten Bedürfnisse und Voraussetzungen für reibungsloses Arbeiten, etwa das Hinauszögern der technisch notwendigen Hilfsmittel oder das Abtun von Selbsteinschätzungen der Arbeiterinnen mit Behinderung – dies alles schlägt in Kerbe der Diskriminierung und Exklusion. „Nein, belegbar ist das alles nicht“, hält Ariana Galani frustriert fest. „Alles wurde im Nachhinein entkräftet. Ich hätte das falsch verstanden. So sei das nie gemeint gewesen…“ Die Grundlage, rechtliche Schritte gegen erfahrene Diskriminierungen einzuleiten, fehlt in den meisten Fällen. Und selbst wenn sie sich einmal gibt, bleiben viele Frauen untätig. Die Angst vor Folgekonflikten ist zu groß.

„Ja komm, du hast doch bestimmt schon lang nicht mehr!“

Dass Diskriminierungen und Übergriffigkeiten nicht nur am Arbeitsplatz passieren, ist eine harte Tatsache. Grenzüberschreitungen beginnen aber schon, wenn „Hilfe“ so gestaltet wird, dass blinde oder sehbehinderte Frauen am Arm genommen und vorangezogen werden, ohne dass überhaupt der Bedarf geklärt ist. Weitaus ernster kann es aber auch zugehen, wenn sich Männer durch die Blindheit der Frauen angestachelt fühlen, ihre Machtposition auszuüben. Janine Zehe kennt dies aus U-Bahnfarten an Freitag- und Samstagsabenden.

Sexuelle Übergriffigkeiten unter der Prämisse, es sei für sie bestimmt schwierig, einen Sexualpartner zu finden, da böte sich entsprechendes Exemplar gerne an, sind ihr ebenso untergekommen, wie direkte Versuche des Anfassens. „Da werde ich dann ganz laut“, sagt Janine Zehe. „Ich bin hier keine, die in Schockstarre verfällt. Einmal hat einer gemeint, ich solle mich nicht so anstellen, eine blinde Frau wie ich hätte bestimmt schon lange mit niemanden mehr geschlafen. Ich wehre mich, sobald das passiert.“

Die Stimme zu erheben und Diskriminierungen oder Übergriffe jeder Art zu kommunizieren, ist essentiell. Täter:innen müssen wissen, dass sie nicht mit jedem Verhalten durchkommen und erst wenn Missstände aufgedeckt werden, kann man aktiv gegen sie vorgehen. „In Deutschland ist man direkter mit der Kritik“, stellt Janine Zehe fest. „Ich habe die Erfahrung in Österreich gemacht, dass man hier konfliktscheuer ist Man bekommt selten etwas direkt ins Gesicht gesagt. Das heißt aber nicht, dass es die Konflikte deswegen nicht gäbe.“

Zusammenhalten in Theorie und Praxis

Gerade für Frauen mit Behinderungen ist ein gutes Netzwerk essentiell. Gleichzeitig aber ist es vor allem in ländlichen Bereichen nicht einfach, eine gute Vernetzung aufrecht zu erhalten – vor allem dann nicht, wenn es auch an technischen Möglichkeiten fehlt. Dr. Martin, die den Franziskushof (ein Projekt, das Gnadenhof und Sozialprogramme vereint) im Niederösterreichischen Drösing leitet und nicht im Besitz eines Smartphones ist, bedauert, dass ein Kontakthalten in ihrem Lebensalltag nicht einfach ist. Die Anbindung nach Wien ist zwar nicht schlecht, dennoch bedeutet es einen Aufwand, die Reise auf sich zu nehmen. Eine Hüftoperation mit Folgeschäden, die das Gehen erschweren, wirkt sich nun auch negativ auf den Aktivitätsrahmen aus. Vor der Pension fürchtet sich Dr. Martin aber schon jetzt aus mehreren Gründen. Einer davon ist das mögliche Wegfallen der wichtigen Arbeitsassistenz und der damit verbundenen Unterstützung am Hof.

„Es braucht mehr Freizeitassistenz für blinde und sehbehinderte Frauen in Österreich“, ist sie sich sicher. „Man will nicht immer auf Partner:innen angewiesen sein. Was ist im Krankheitsfall? Wer schaut auf die Kinder? Was ist, wenn ich in meiner Freizeit zum Friseur, zur Kosmetik oder zu kulturellen Veranstaltungen will? Oder wenn ich jemanden zum Einkaufen brauche?“ Nicht jede kann sich Freizeitassistenz auf der Basis leisten, die notwendig wäre, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

„Leute müssen wissen, was wir können“

Sensibilisierung sehen alle drei Frauen als Schlüssel für mehr Verständnis und zu einer Veränderung des Bildes der blinden oder sehbehinderten Frau in der Gesellschaft. Dies beginne schon im eigenen Bereich. „Manchmal höre ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln ein Kind eine Frage stellen und die Antwort der Begleitperson: ‚Sei still. Die Frau ist blind.‘ Ich bemühe mich dann immer, in den Dialog zu kommen und zu erklären, wofür ich den weißen Taststock habe und wie man mir weiterhelfen könnte“, sagt Dr. Martin. Blindheit und Sehbehinderungen sollen kein Tabuthema sein, über das nicht gesprochen werden darf. Im Gegenteil. „Ich nehme gerne Hilfe an, auch, um die Möglichkeit zu bekommen, zu kommunizieren“, erzählt Adriana Galani. „Selbst wenn es nicht direkt notwendig wäre, sage ich: ‚Danke, es ist nett, wenn Sie mit mir über die Straße gehen!‘ Oft kommt dann Folgefragen und ich nütze die Möglichkeit, um ein wenig aufzuklären.“ Trotz aller Berührungsängste ist das Interesse von vielen Passant:innen dann doch größer. „Oft kommen Leute zu mir uns sagen: ‚ich will Ihnen helfen, aber ich weiß nicht wie.‘ Ellenbogen und wir gehen. So einfach ist das!“, hält Adriana Galani lachend fest.

Die Stärkung blinder und sehbehinderter Frauen durch Netzwerke und Workshops ist grundlegend. Weiterbildungsmöglichkeiten und die Option, sich auszutauschen und gegenseitig weiterzuhelfen, ist notwendig und auch zielführend darin, als Frau mit Behinderung den eigenen selbstbestimmten Raum zu erweitern. Ob Arbeitscoaching, Lebenspraktische Fertigkeiten oder auch Workshops zur eigenen Präsentation – jedes Angebot kann neue Türen öffnen. „Viele glauben, nur weil man blind ist, ist es egal, wie man aussieht“, meint Adriana Galani. „Nun, das ist nicht der Fall. Wir leben in einer Welt, in der man gesehen wird. Ich möchte hineinpassen und ich möchte mich über mein Aussehen auch definieren können. Selbstbestimmtheit bedeutet für mich auch, mich so zu präsentieren, wie ich es will.“

Es braucht aber auch die passenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, damit sich für Frauen mit Behinderungen mehr Optionen überhaupt erst ergeben können.

„Es muss für Frauen das gleiche Gehalt geben, wie für Männer“, sagt Janine Zehe. „Und es braucht ein Hilfsmittelgesetz, das den Namen verdient. Ich kann nicht auf die Willkür von Spender:innen zur Weihnachtszeit hoffen. Ich will das Mitleid anderer nicht, sondern genau so selbstbestimmt leben können, wie alle anderen auch. Warum sind Finanzierungen von Bundeslandgrenzen abhängig? Wieso bekommt eine Studentin, die jeden Tag zur Uni muss oder eine Pensionistin weniger finanziert, als diejenigen, die das Glück haben, einer Arbeit nachgehen zu können?“

Dr. Elisabeth Martin, deren erster und letzter Gedanke des Tages beim Wohl ihrer Tiere liegt, fasst es zusammen: „Ich möchte die Unterstützung haben, die ich brauche, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.“

Eine Unterstützung, die eigentlich nur allzu selbstverständlich sein müsse. Aber so weit sind wir noch nicht.

 

Autorin Iris Gassenbauer dankt Adriana Galani, Elisabeth Martin und Janine Zehe für die Gespräche.

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