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Sechs Punkte, eine ganze Welt. Interview mit Prof. Erich Schmid

"Der Durchblick"-Auskoppelung im Fokus

Haben Sie Fingerspitzengefühl? Menschen, die das erste Mal mit Brailleschrift in Berührung kommen, reagieren meist ähnlich: „Dies soll man lesen können? Ich kann die Punkte kaum auseinander halten!“ Geübte Fingerkuppen aber ziehen aus der Punktschrift einen großen Nutzen, denn Braille ist mehr, als ein tastbarer Code. Was Braille mit Rechtschreibreformen und dem Computerzeitalter zu tun hat, hat der Durchblick im Gespräch mit OStR Prof. Mag. Erich Schmid, Vorstand der Österreichischen Brailleschriftkommission, erfahren.

Als sich Louis Braille in jungen Jahren am Auge verletzt und die Entzündung schließlich zur Erblindung des 1809 geborenen Sohnes eines Sattlers führt, sind die Möglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen, eigenständig zu lesen, äußerst karg. Noch fehlt die Basis, in der die schon existierenden Ideen zu einer Schrift für blinde Personen zusammengeführt und weiterentwickelt werden sollen. Louis Braille, der im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nach allen seiner Familie zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert wird, kommt am „Königlichen Institut für junge Blinde“, dem heutigen „Institut National des Jeunes Aveugles“ in Paris mit dessen Begründer Valentin Haüy in Kontakt. Dieser wiederrum hatte Charles Barbiers „Nachtschrift“, ein System für den militärischen Einsatz, das mit den Fingerkuppen gelesen werden konnte, präsentiert bekommen. Der Rest ist Geschichte. Braille, technisch begabt und ein nimmermüder Tüftler, lässt der Gedanke einer universell anwendbaren Schrift für blinde Menschen nicht mehr los. Bis zu seinem frühen Tuberkulosetod im Jahr 1852 beschäftigt er sich mit einem Schriftsystem, das später seinen Namen tragen soll und das bis heute eine Grundfeste der taktilen Kommunikation ausmacht.

Dass sich im Laufe der Jahre seit Louis Brailles Tod einiges getan hat und die Schrift beständig weiterentwickelt wurde, zeigt, wie wichtig die Punktschrift durch die Jahrhunderte hindurch geblieben ist. Haben sich auch die Medien verändert, so blieb Braille immer ein wesentlicher Grundstein barrierefreier Kommunikation für blinde und sehbehinderte Menschen. 

Ein Braillebogen liegt auf einem braunen Holztisch.

Braille lernen

„Da, wo es in Österreich blinde Menschen gibt, wird auch Braille unterrichtet. Leider ist dies in vielen anderen Teilen der Welt nicht der Fall“, weiß Prof. Erich Schmid, der als Lehrer am Bundes Blindeninstitut Wien (BBI) nicht nur jahrzehntelange Unterrichtserfahrung gesammelt hat, sondern auch selbst als Schüler das Institut besucht hatte. In dieser Zeit lernte er Anton Hartig, den damaligen Leiter des Blindendruckverlages und Obmann des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Wien, Niederösterreich und Burgenland (von 1980 bis 1995) kennen und fand in ihm eine lehrreiche und nicht versiegende Quelle der Diskussion rund um die Brailleschrift und ihre Anwendungsbereiche.

Aber auch außerhalb des Blindeninstituts – so etwa an Schulen mit inklusivem Unterricht – werden Kinder und Jugendliche in Braille unterrichtet. Vor allem die Benutzung der Braillezeile und auch der Brailleschrift auf dem Smartphone nimmt zu, während papierbasierte Brailleschrift weniger wird. „Schulbücher für Kinder ab zehn Jahren werden praktisch nur mehr digital aufbereitet“, berichtet Erich Schmid. „Man kann aber nicht sagen, dass die Nutzung der Brailleschrift generell abnimmt. Studien, etwa jene, des ZuBra-Projekts (Zukunft der Brailleschrift) haben gezeigt, dass die Nutzung zwar heute eine andere, die Bedeutung von Braille für die Lese- und Schreibkompetenz weiterhin aber grundlegend ist.“

Brailleschrift zu erlernen ist kein Kinderspiel. Vor allem späterblindete Personen müssen, einiges an Zeit investieren, um mit dem Lesen mittels Fingerkuppen vertraut zu werden. Aber es gibt vielfältige Unterstützung. So findet sich neben hilfreichen Lehrwerken etwa auch das Computerlernprogramm „Universal-Braille-Trainer“ das vielseitig für Lerninhalte eingesetzt werden kann und das Prof. Schmid gemeinsam mit Christian Punz vom BBI entwickelt hat. Außerdem veranstalten mehrere Landesorganisationen des BSVÖ lokal Brailleschriftkurse, die ein gemeinsames Lernen und Weiterkommen ermöglichen.

Braille reformiert

Sprache ist einem ständigen Wandel unterworfen und dies betrifft auch die Schrift. Bestimmt können Sie sich an die letzte Rechtschreibreform im Jahr 1996 erinnern, die etwa die „daß – dass“-Änderung mit sich brachte. Die Reform war nicht unumstritten und führte in den Folgejahren zu mehreren Auseinandersetzungen, Revisionen und Reform – alles unter dem Vorhaben, Orthografie zu vereinheitlichen und zu verbessern. Schon mehr als zwanzig Jahre davor hatte eine ebenso bedeutende Reform der Brailleschrift stattgefunden, erinnert sich Prof. Erich Schmid: „Im Jahr 1974 wurde eine Kurzschriftreform durchgeführt, die das Übersetzen in Kurzschrift mithilfe des Computers erleichtern sollte.“ Zu diesem Zeitpunkt befand sich der sprachen- und braillschriftinteressierte Erich Schmid im Studium und der Lehrerausbildung. Als er 1976 als Lehrkraft ans Blindeninstitut kam, war Anton Hartig der Vertreter des BSVÖ in der Österreichischen Kurzschriftkommission. Mit dem Aufkommen der Heim-PCs und elektronischer Hilfsmittel, Anfang der Achtziger-Jahre, wurde auch Braille Teil des Medienwechsels. Für Braillezeilen, die den Schnittpunkt zwischen Computer und blinden und sehbehinderten Personen darstellen indem Inhalte in Brailleschrift übertragen werden und für die 8-Punkt Braillgeräte, musste eine Codierung gefunden werden. Erich Schmid, der auch damals schon im Normungsinstitut tätig gewesen ist, erinnert sich: „Die Codierungstabellen sind damals auseinandergedriftet, was vor allem an den Herstellerfirmen lag. Firmen mit Sitz in den USA codierten anders, als deutsche Firmen. Hätte es in den frühen Achtzigern schon eine Grundlage wie den Windows Unicode gegeben, hätte man sich zusammensetzen und eine einheitliche Codierung finden können. Da waren Braillezeilen sozusagen zu früh am Markt.“ 

Es war nur naheliegend, dass Prof. Schmid, der sich auch schon in frühen Jahren für Computer interessierte und mit Hartig Reformen diskutiert und Fehler in der Computer-Braille-Übertragung gefunden hatte, auch in die Agenden der Kommission eingebunden wurde. 1998, also kurz nach der Rechtschreibreform, entschloss man sich schließlich dazu, das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder (BSKDL) zur dauerhaften Beobachtung der Entwicklungen einzusetzen. Prof. Erich Schmid vertritt als Vorsitzender der Brailleschriftkommission Österreich im Brailleschriftkomitee.

Braille umfassend

Die Brailleschrift lässt sich weitläufig einsetzen, denn ihre Punktkombinationen erschließen unterschiedlichste Systeme der Verschriftlichung. „Die 6-Punkt Brailleschrift setzt im Bereich des lateinischen Alphabets immer die selben Punkte für die selben Buchstaben ein, das gilt auch für das Kyrillische oder etwa das Arabische. So bleibt etwa ein ‚A‘ immer ein ‚A‘“, erklärt Prof. Schmid. „Man kann so – auch ohne es zu verstehen – zum Beispiel Russisch lesen!“
Aber nicht nur im Bereich der Verschriftlichung von Sprache findet Braille seinen Einsatz. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie blinde Musizierende neue Stücke erlernen? Auch zur Notation von Musik findet die vielseitige Punktkombination Verwendung. Und spielen Sie gerne Schach? Die Schachschrift stellt jeden Zug dar und lässt die Bewegungen der Figuren so lebendig werden. Noch ein Tipp für Eilige, die sich einer besonderen Herausforderung stellen möchten: hier bietet sich das Erlernen der 6-Punkt-Braille-Stenografie an!

Braille barrierefrei

Braille spielt für Barrierefreiheit eine wichtige Rolle. Taktile Beschriftungen ermöglichen Orientierung und informieren, leiten oder warnen. Dass in der Gestaltung der Umwelt aber noch immer zu wenig an barrierefreie Aufbereitung gedacht wird – sei es nun in Form von Braille oder auch tastbarer Schrift – führt für blinde und sehbehinderte Menschen zu täglichen Hürden. Erich Schmid erinnert sich daran, während einer Reise ins falsche Schlafwagenabteil zurückgekehrt zu sein und dort vergeblich auf das Frühstück gewartet zu haben, da im Zug die taktile Beschriftung fehlte. Die Anwendungsbereiche für taktile Beschriftung wären eigentlich schier unendlich. Ob Sitzplätze, Türen in Hotels oder Supermarktprodukte, tastbare Schrift würde viele Situationen erleichtern. Prof. Schmid, der in der Punktkodierung ein wirkungsvolles und essentielles Instrument sieht, ist aber auch neuen Wegen aufgeschlossen. „In der Zukunft gibt es vielleicht Codes, die mit dem Smartphone ausgelesen werden können. Es muss ja nicht immer Braille sein! Viel wichtiger ist die Zugänglichkeit.“

Sie möchten Braille erlernen oder Ihre Fähigkeiten verbessern? Informieren Sie sich bei Ihrer lokalen Landesorganisation über das Angebot!

Das Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder – BSKDL informiert auf seiner Webseite über die Arbeit des Komitees und über aktuelle Neuerungen. Besuchen Sie: www.bskdl.org

Das Kooperationsprojekt ZuBra – Zukunft der Brailleschrift (Pädagogische Hochschule Heidelberg und Hochschule für Heilpädagogik Zürich) forschte zum Nutzungsverhalten und den schriftsprachlichen und technologischen Kompetenzen blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen. Die 2019 abgeschlossene Studie zeigte die Wichtigkeit der Blindenschrift für die Lese- und Schreibkompetenz und somit auch die gesellschaftliche Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen auf.

Mehr Lesestoff

Sie möchten noch mehr schmökern? Unter diesem Link gelangen Sie zur Gesamtausgabe des Verbandmagazins "Der Durchblick" des 2. Halbjahres 2021: https://www.blindenverband.at/de/information/durchblick/archiv/1326/Der-Durchblick-2021

Es steht Ihnen der Download als PDF, als Rohtext und auch als Audiofile (MP3) zur Verfügung!

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Viel Spaß beim Lesen!

 

 

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