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BSVÖ: Barrierefreie Bildung II: Lernen und lernen lassen

  • Barrierefreie Bildung © BSVÖ

„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“, ist einer der Sprüche, an dem wir am Weg zum nächsten Zeugnis oder Abschluss nicht vorbei kommen. Aber was, wenn Lernen nicht für die Schule und schon gar nicht für das Leben möglich ist, weil systeminterne Barrieren ein inklusiver, qualitativ hochwertiger Unterricht nicht durchgeführt wird? Menschen mit Behinderungen müssen diese Erfahrung immer wieder machen. Mit drastischen Folgewirkungen…

Vicky E. ist aufgeregt. Bald beginnt ihr erster Schultag und sie hat schon alles vorbereitet, eine bequeme Schultasche bekommen und sich ein Outfit für den ersten Schultag überlegt. Weil keine ihrer Kindergartenfreund:innen mit ihr in die Schule eintritt, weiß sie noch nicht, wer ihre neuen Sitzbachbar:innen sein werden und sie hofft, dass es nette Kinder sind, mit denen sie auch in der Pause viel Spaß haben wird.

 

Der Weg bis zum ersten Schultag war von vielen Entscheidungen gepflastert, die Vicky und ihren Eltern nicht leicht immer ganz leicht gefallen sind. Vicky ist stark sehbehindert und es wird befürchtet, dass trotz aller medinischen Maßnahmen mit einer Verschlechterung zu rechnen ist. Nachdem sie schon im Kindergarten Frühförderung erhalten hat, hat sie sich bisher immer gut und mit vielen kreativen Ansätzen im Alltag zurecht gefunden. Dennoch stand nun eine sehr große Frage im Raum: wie soll es nun weitergehen? Sonderschule, oder Regelschule mit inklusivem Unterricht? Weil Vicky und ihre Eltern in einer österreichischen Bundeshauptstadt zu Hause sind, gab es zwar etwas mehr Wahlmöglichkeiten, aber dennoch ging dem Auswahlprozess ein langes Für- und Wider voraus.

Regel- oder Sonderschule, das ist hier die Frage….

 

So oder so, Kinder, die das schulpflichtige Alter erreicht haben, müssen in Österreich eingeschult werden. Damit das auch reibungslos vonstatten geht, müssen die Erziehungsberechtigten die Kinder bei den zuständigen Grundschulen einschreiben lassen und hierbei die gültigen Einschreibfristen befolgen.

Sollten die Erziehungsberechtigten oder auch vertraute Pädagog:innen bei dem Kind einen sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) vermuten, ist nun der Zeitpunkt gekommen, einen Antrag auf Feststellung zu stellen (dies kann bei späterer Vermutung auch im Laufe der Schulzeit noch geschehen).

 

Das Gesetz definiert den SPF folgendermaßen:

 

§ 8. (1)

Auf Antrag oder von Amts wegen hat die Bildungsdirektion mit Bescheid den sonderpädagogischen Förderbedarf für ein Kind festzustellen, sofern dieses infolge einer Behinderung dem Unterricht in der Volksschule, Mittelschule oder Polytechnischen Schule ohne sonderpädagogische Förderung nicht zu folgen vermag. Unter Behinderung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Unterricht zu erschweren. […]  Im Zuge der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist auszusprechen, welche Sonderschule für den Besuch durch das Kind in Betracht kommt oder, wenn die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten es verlangen, welche allgemeine Schule in Betracht kommt. Unter Bedachtnahme auf diese Feststellung hat die Bildungsdirektion festzulegen, ob und in welchem Ausmaß der Schüler oder die Schülerin nach dem Lehrplan der Sonderschule oder einer anderen Schulart zu unterrichten ist. Bei dieser Feststellung ist anzustreben, dass der Schüler oder die Schülerin die für ihn oder sie bestmögliche Förderung erhält.

Wie in im Schulpflichtgesetz 1985 festgehalten, steht also die Wahl zwischen Sonderschule oder einer anderen Schulart offen, aber es sei die bestmögliche Förderung zu finden. Wie diese bestmögliche aller Möglichkeiten aussieht, steht aber oft in den Sternen und macht es vielen Erziehungsberechtigten und Kindern schon vor Schulbeginn nicht einfach, sich eindeutig festzulegen.

Sonderschulen

In allen Österreichischen Bundesländern gibt es Sonderschulen mit unterschiedlicher Spezialisierung. Ziel von Sonderschulen ist es, Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer speziellen Bedürfnisse zu fördern. Lehrpläne und Benotung richten sich nach dem SPF-Bescheid. Nach neun Jahren (inklusive Berufsvorbereitungsjahr) kann mit Bewilligung noch ein 11. und 12. freiwilliges Schuljahr angehängt werden.

Regelschulen mit inklusivem Unterricht

Ebenfalls in allen Bundesländern vertreten sind Regelschulen mit inklusivem Unterricht in dem Kinder und Jugendliche gemeinsame Lernerfahrungen sammeln können und in denen Schüler:innen mit SPF Volksschule, Mittelschule, die Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule (AHS), die  Polytechnischen Schule und die einjährigen Fachschule für wirtschaftliche Berufe besuchen können. Mit Bewilligung des Schulerhalters und der Behörden ist auch ein freiwilliges 11- und 12. Schuljahr möglich.

In Absprache mit der Bildungsdirektion muss der Schulstandort gesucht und gefunden werden und die Lehrumgebung an den Bedarf der Schüler:innen angepasst werden. Qualifizierte Pädagog:innen sollen die Kinder mit SFP am Bildungsweg begleiten. Auch hier wird nach dem SPF-Bescheid unterrichtet und beurteilt.

Umschwenken möglich

Sowohl zwischen Kindergarten und Volksschule, Volksschule – Mittelschule/AHS Unterstufe und Mittelschule/AHS Unterstufe – PTS/ weiterführende Schulen – Berufsausbildung ist ein Wechsel auf in inklusive Regelschulen möglich.

Persönliche Assistenz für den Schulbesuch

Österreich hat sich dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass allen Kindern der gleichberechtigte Zugang zu Bildung offensteht und dass jene Gleichbehandlung in allen Bereichen des täglichen Lebens gewährleistet ist. Tatsächlich aber gibt es eine Ungleichbehandlung zwischen Kindern und Jugendlichen mit Körper- und mit Sinnesbehinderungen, denn nicht allen steht gleichberechtigt Persönliche Assistenz im Unterricht zur Verfügung. So haben Kinder mit Sinnesbehinderungen unabhängig von ihrer Pflegestufe keinen Anspruch auf die Finanzierung Persönlicher Assistenz für den Schulbesuch.

Weshalb in puncto geeigneter Hilfsmittel und bedarfsorientierter Unterstützung durch hochwertige Persönliche Assistenz für Schüler:innen mit Sinnes- und Körperbehinderungen unterschieden wird, ist völlig unverständlich. Der BSVÖ und anderen Behindertenrechtsorganisationen unternahmen deshalb im Jahr 2022 einen Schritt, der zukünftig für Gerechtigkeit am Bildungsweg führen soll…

So viel Freiheit wie möglich, so viel Unterstützung wie nötig

Um möglichst selbstbestimmt durch den Bildungsweg zu kommen, ist hin und wieder Unterstützung notwendig. Diese ist aber nicht immer und für alle, die Bedarf hätten, verfügbar. Wenn es dabei auch noch um die Ausbildung von Kinder- und Jugendlichen mit Behinderungen geht, wird die Situation aber schnell besonders untragbar.

Verbandsklage mit Erfolg gegen Republik eingebracht

Der BSVÖ hat deswegen gemeinsam mit dem Klagsverband, mit BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, Integration Tirol, Integration Wien, Selbstbestimmt Leben Österreich, Selbstbestimmt Leben Innsbruck und einem weiterer Mitgliedsverein des Klagsverbands eine Verbandsklage gegen die Republik eingebracht, der vom Handelsgericht in 1. Instanz recht gegeben wurde: die vorliegende Diskriminierung von Schüler:innen mit Sinnesbehinderungen wurde anerkannt.

Der Auslöser

Schüler:innen mit Behinderungen werden in Österreich diskriminiert und um eine selbstbestimmte Zukunft gebracht, wenn der chancengleiche Zugang zu Bildung nicht möglich ist. Erst ab Pflegestufe 5 erhalten Schüler:innen mit körperlicher Behinderung Persönliche Assistenz für den Besuch von Bundesschulen. Kinder mit Sinnesbehinderung jedoch haben keinen Anspruch auf diese Form der Unterstützung und müssen aufgrund von Ressourcenmangel und dem Fehlen von bedarfsgerechter pädagogischer Begleitung oft auf Mittel- und Sonderschulen ausweichen.

Forderungen des BSVÖ an ein inklusives, chancengleiches Bildungssystem

 

  • Inklusion muss in frühester Kindheit beginnen und durch inklusivpädagogisches Fachpersonal bedarfsorientiert und individuell begleitet werden.
  • Der Ausbau inklusiver Schulen in Österreich soll zur Sicherstellung einer gleichberechtigten, nicht-diskriminierenden und durch Diversität geprägten Gesellschaft führen, in der allen Menschen ein selbstbestimmter, chancengleicher Bildungsweg offensteht.
  • Barrierefreiheit und ganzheitlich angewendetes Design For All muss in allen Bereichen sichergestellt und in Absprache mit Expert:innen umgesetzt werden.
  • Die Forderungen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen müssen bei der Gestaltung eines inklusiven und zukunftsorientierten Bildungssystems oberste Priorität haben.

Bildung und Zukunft

Vicky E. hat noch einen langen Bildungsweg vor sich und hofft, dass sie neue Freund:innen kennenlernen, spannende Dinge lernen und gute Noten heimbringen wird. Die Schulzeit wird einen großen Teil ihrer kommenden Jahre ausfüllen und soll sie im besten Fall mit allem ausstatten, was für die nächsten Schritte in die Selbstbestimmtheit notwendig ist. Denn theoretisch lernt man ja nicht für die Schule…dafür aber ist es notwendig, dass Vicky die bestmögliche Bildung zukommt, ihre Talente und Fertigkeiten gefördert werden und sie ihre Potentiale entfalten kann. Noch ist das keine Selbstverständlichkeit und steht die Zukunft von Kindern- und Jugendlichen mit Behinderungen weiterhin auf den wackeligen Beinen eines Bildungssystems, dessen Verbesserungspotential ein großes ist.

 

Weiterführende Link

Bildung und Behinderung (staatliche Webseite): https://www.oesterreich.gv.at/themen/bildung_und_neue_medien/schule/5/sonderschule.html

Schulgesetz Gesetzestext: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009576

BSVÖ Folder: Bildung für alle: https://www.blindenverband.at/de/information/broschueren/1577/BILDUNG-FUeR-ALLE

 

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