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BSVÖ: Barrierefreie Bildung I: Vom ernsten Ernst des Lebens

  • BSVÖ: Barrierefreie Bildung I © BSVÖ

Mit dem September ist es wieder so weit: aufgeregte Eltern und Kinder am ersten Schultag, Schultüten und neu gekaufte Federpennale. Und ein Spruch, der seit Generationen für Respekt vor dem Bildungssystem sorgen soll: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens! Wie ernst dieser Ernst für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aber wirklich sein kann, zeigt sich schnell. Fehlende Ressourcen, Mangel an inklusionspädagogisch ausgebildetem Fachperson, Barrieren am Zugang zum Bildungsangebot. Oft scheint der erfolgreiche Bildungsweg schon ganz zu Beginn durch Umleitungen und Barrieren blockiert.

Mit Recht auf Bildung pochen

Das recht auf Bildung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Das hielt schon die Allgemeine Erklärung für Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 unter Artikel 26 fest. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 14) heißt es:  

  1. Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung.
  2. Dieses Recht umfasst die Möglichkeit, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen.
  3. Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln.

Und auch Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention beinhaltet dezidiert:

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel,

  1. die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;
  2. Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;
  3. Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.

Außerdem müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden, sie gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben und auch, dass in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.

So die Theorie. In der Praxis hat sich aber schon mehrfach gezeigt, dass das in Österreich angebotene Bildungssystem für Menschen mit Behinderungen die gesetzlich festgelegten Anforderungen nicht erfüllt und Kindern und Jugendlichen dadurch ein gleichberechtigter Zugang zu Grund-, Aus- und Weiterbildung erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Ein Zustand, den der Blinden- und Sehbehindertenverband sei Jahren scharf kritisiert. Bildung ist ein wichtiges Gut, das niemanden versagt bleiben darf. Eine gute, solide Ausbildung fördert die Chancen, später am Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Gleichzeitig erlaubt es die Förderung von Talenten und Neigungen, individuelles Potential zu entfalten und persönliche Erfüllung zu finden.

Wo es knirscht und hakt

An den gesetzlichen Grundlagen liegt es also nicht, denn theoretisch wird darin auf Inklusion, Gleichberechtigung und Chancengleichheit gesetzt. Weshalb aber ist das aktuelle Bildungssystem für so viele Menschen mit Behinderungen unzufriedenstellend?

Mit nur einem Wort lässt sich das wohl nicht beantworten, eher spielen verschieden Faktoren in die Misere. Aber um auch wirklich allen Menschen nachhaltige, bedarfsgerechte Bildungsangebote zur Verfügung zu stellen, ist umfangreiche und auf allen Ebenen mitgedachte Barrierefreiheit die Grundvoraussetzung. Sind Bildungseinrichtungen, Unterrichtsprogramme, Lehr- und Informationsmaterial nicht für alle zugänglich, stehen die Lernwilligen schneller vor der ersten Behinderung, als sie das kleine Einmaleins herunterbeten können.

Es müssen also die notwendigen Ressourcen und Rahmenbedingungen für ein inklusives Bildungssystem bereitgestellt werden, bevor überhaupt an verschiedenen Schräubchen geschraubt werden kann. Solange dies nicht der Fall ist, laufen die meisten Verbesserungsversuche früher oder später ins Leere.

Frühes Fördern, langes Lernen

Bildung muss von Anfang an gedacht werden – das heißt, dass nicht erst mit dem Besuch der Pflichtjahre darüber nachgedacht werden darf, wie bedarfsgerechte inklusive Bildung aussehen soll. Frühförderung in den ersten Lebensjahren legt den Grundstein zur Entfaltung eigener Neigungen, Interessen und Fertigkeiten. Wenn blinde und sehbehinderte Kinder schon im jüngsten Alter Strategien zur Verfügung gestellt werden, die der eigenständigen Orientierung und Mobilität dienen, so gelingt schon früh das Erlenen von Fertigkeiten, die auch im späteren Leben notwendig sein werden.

Ausbildung darf auch nicht nach heruntergespulten Pflichtschuljahren ein abruptes Ende aufgrund mangelnder Optionen finden. Derzeit ist die Situation für Kinder mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) noch besonders unbefriedigend. Wollen sie ein 11. und 12. Schuljahr an einer inklusiven Schule absolvieren, muss das noch von der Schulbehörde bewilligt werden. Über den Pflichtschulabschluss hinaus gemeinsame Lernerfahrungen zu sammeln, ist also noch lange keine Selbstverständlichkeit.

Staatenprüfung: Rückschritte statt Fortschritte

Als Österreich im Zuge der Staatenprüfung 2013 geprüft wurde, wurden Mängel im Bildungsbereich für Menschen mit Behinderungen festgestellt. Jetzt, 10 Jahre später, fällt der Prüfbericht des unabhängigen Monitoringausschusses nicht besser aus – im Gegenteil: die Rede ist von gravierenden Mängeln im derzeitigen Bildungssystem für Menschen mit Behinderungen, das weder Chancengleichheit noch Inklusion fördere.

 

Nachhilfe benötigt?

Der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich (BSVÖ) fordert neben unzähligen anderen Selbsthilfeorganisationen für Menschen mit Behinderungen die Sicherstellung eines Bildungssystem, das niemanden durch den Rost fallen lässt und für nachhaltige Chancengleichheit sorgt. Auf den Punkt gebracht lauten die Forderungen des BSVÖ:

  1. Bedarfsorientierte Bildung muss bereits im Kindergarten starten
  2. Ressourcen und Rahmenbedingungen müssen für ein inklusives Bildungssystem bereitgestellt werden
  3. Barrieren dürfen nicht zur Einbahnstraße in Richtung Sonderschule führen
  4. Ein inklusives Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Erwachsenbildung gehört umgesetzt 

„Chancengleichheit in der Bildung ist essenziell  […] dies gilt natürlich auch für blinde und sehbehinderte Menschen. Eine qualitativ hochwertige Bildung und die Möglichkeit auf Weiter-, Fort- und Ausbildung darf kein Luxus sein. Schließlich geht es hier um die Zukunftschancen aller Generationen, die nach uns kommen!", so Dr. Markus Wolf, Präsident des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Österreich.

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